Die Revolution digitalisiert ihre Kinder.

Oder: Welche Hoffnung man aus dem ACTA-Protest ziehen kann.

Die Freiburger ACTA-Demo.

Über 100.000 Menschen demonstrierten am Samstag gegen das ACTA-Abkommen. Organisiert hatte den Protest – ja, wer eigentlich? Binnen weniger als 2 Wochen bildeten sich in zig Städten Bündnisse, entstanden Wiki-Seiten mit Demo-HowTo und Materialien, wurden Demonstrationen angemeldet und per Facebookevents zahlreiche Demonstranten auf die Straße gebracht. Nicht nur in Freiburg lag dabei die Quote von Facebookzusagen und Demoteilnehmern bei über 50%. Insgesamt: beachtlich!

In meinem Kurzbericht beschrieb ich meine offensichtlichste Beobachtung:

Darunter waren neben etlichen grauen Haaren vor allem auffällig viele sehr junge Leute und auffällig wenige und sehr kleine Parteiblöcke. Diese neue Bewegung ist jung und überparteilich. Es demonstrierte keine politische Gruppe, sondern das Internet. Nicht mehr und nicht weniger.

Till Westermayer fiel das auf und Wolfgang Michal fiel bei Carta auf, daß Till das aufgefallen war – oder so. Und was fällt dabei auf? Beide titeln „Die Kinder der digitalen Revolution“. Wirklich?

Eines vorweg: Es hätte nicht geschadet, wenn mehr Leute (mich eingeschlossen) mit mehr der jungen Demonstranten gesprochen hätten. Aber auch dann wären die Spekulationen nicht weniger divers gewesen, als sie es waren: Ging es wirklich (wenn überhaupt) nur um ACTA oder zeigte sich am Samstag eine neue soziale Bewegung?

Bekannt, erwartbar und nicht zu verurteilen ist zumindest, daß die meisten nicht genau gewußt haben dürften, worum es bei ACTA wirklich geht, sondern daß sie auf die Straße gingen, um etwas zu verteidigen, was sich vielleicht am ehesten mit Informationsfreiheit beschreiben ließe. Das Phänomen wäre meiner Ansicht nach damit aber noch nicht weitgehend genug beschrieben.

Tills Beitrag zeigt sehr schön, wie hilflos sich das alte Parteiensystem dieser neuen Demokratengeneration gegenüber fühlt, die nicht politik- oder parteienverdrossen ist, sondern repräsentationsverdrossen. Diese Generation, die ersten echten digital natives, ist Partizipation gewohnt und fordert diese jetzt auch von der Politik ein. Das ist einer der Gründe für den großen und anhaltenden Erfolg der Piratenpartei auch und gerade bei Erstwählern, denn nur bei den Piraten bekommen sie eine ernstzunehmende Möglichkeit, mehr Einfluß zu nehmen als alle vier Jahre den analogen Likebutton anzukreuzen.

Wenn sich die Altparteien fragen, welche Angebote sie diesen neuen Angebotsnachfragern machen sollen, dann liegt genau darin das Problem: Die Generation Flatrate möchte kein festes Produkt kaufen, sondern sich flüssig beteiligen, so wie sie es aus ihrem digitalisierten Alltag gewohnt ist. Sie sind nicht die Kinder der digitalen Revolution, sie SIND die digitale Revolution! (Natürlich meinen die beiden oben genannten Blogger mit digitaler Revolution die technische Neuerung und ich spreche von dem gesellschaftlichen Wandel, der damit verbunden ist, aber ich mag den Vergleich.)

Heute zeigt sich, daß es keine digitale, virtuelle oder wie auch immer parallele Realität gibt und vielleicht niemals gab: Das Netz bildet die Kohlenstoffwelt ab. Bewegungen im Netz sind immer reale Bewegungen. Eine solche konnte man am Samstag sehen, hören und fühlen. Eines aber geht mit ihr nicht: Sie läßt sich nicht, als Netzpolitik oder unter welchem Label auch immer, zu einem neuen Thema unter vielen alten machen. Schon gar nicht läßt sie sich unter ein vorhandenes Thema subsumieren. Der Versuch aus Linkspartei-Kreisen, den ACTA-Protest mit der Parole „Freiheit statt Konzerninteressen“ in Kapitalismuskritik umzumünzen, mutet da geradezu naiv an, auch ohne die zahlreichen Apple- und Google-Funktelefone zu erwähnen, mit denen das Geschehen fast in Echtzeit auf Facebook dokumentiert wurde.

Es handelt sich meiner Ansicht und bescheidenen Hoffnung nach also nicht nur um eine genuine Jugendbewegung sondern um den Beginn einer Art von gesellschaftlichem Wandel hin zu einer nativ digitalen Kulturgemeinschaft.

Wenn ich sage, daß keine politische Gruppe demonstrierte, dann meine ich damit übrigens nicht, daß die jungen Leute unpolitisch sind. Im Gegenteil: sie wollen reale politische Ideen genauso remixen, upmashen und sharen, wie sie es mit digitalen Bildern und Musikstücken ganz selbstverständlich tun. Daher ist der Protest auch gegen mehr als nur gegen ACTA, daß als Bedrohung der Netzkultur wahrgenommen wird, zu verstehen (auch wenn es damit noch weitergehen dürfte, fragt sich nur, wie): Er verlangt nach irgendetwas zwischen direkter Demokratie und Liquid Feedback. Vielleicht findet sich dafür demnächst ein Name. Eine Lösung zu finden dürfte weitaus schwieriger sein, nicht nur für die Altparteien, sondern für unsere repräsentative Demokratie als Ganzes.


[Am Rande: Ich bin 31 und fühlte mich aus der Demo einerseits auch ein wenig alt, aber andererseits war da auch ein Gefühl, unter Gleichgesinnten zu sein, unter vielen anderen digital natives, die logischer Weise immer mehr werden und zur Zeit im Begriffe sind, eine relevante gesellschaftliche Gruppe zu werden. Endlich. Im Übrigen möchte ich darauf hinweisen, im gesamten Text ohne das wutbürgerliche Schlagwort „Transparenz“ ausgekommen zu sein.]