Immer wieder liest man Anklänge von Vergleichen, die Parallelen zwischen der friedlichen Revolution in Deutschland und dem gesamten Ostblock 1989 und dem, was in diesen Minuten und Tagen in Kairo, ganz Ägypten und anderen Ländern in der arabischen Welt suchen und finden wollen. Kaum jemanden werden die Bilder vom Tahrir Square, dem seinem Namen nach schon fast prophetischen Platz der Befreiung, kalt lassen. Mir jedenfalls kamen in den letzten Tagen die Bilder der großen Demonstrationen in Leipzig im Oktober 1989 in den Sinn. Seit vorgestern war an andere Bilder zu denken, etwa an das gewaltsame Vorgehen von Polizei und Staatssicherheit gegen die Demonstrationen in der DDR im Oktober 1989. Bei den feiernden, fahnenschwenkenden Massen die sich zur Stunde friedlich in Kairo versammelt haben ist ein freudentränenverzerrter Blick zurück an die Szenen, die sich am 9. November 1989 an Grenzübergängen in Berlin abspielten. Aber wie vergleichbar sind die Situationen wirklich?
Medien
Selbstverständlich ist die Medienwelt heute eine andere als vor 21 Jahren. Nach allem was ich bisher gehört und gelesen habe muß man bei der sich in Ägypten abspielenden friedlichen Revolution (ich nenne sie bewußt friedlich, denn die Gewalt ging vom Staat aus!) zwischen der medialen Vernetzung im Land und dem Transport in andere Länder differenzieren: Anscheinend spielen die oft genannten Medien wie Twitter oder Facebook nach außen eine andere Rolle als nach innen, wo man sie zwar auch nutzt, aber anders, und sich eher auf Blogs stützt oder sich ganz klassisch per Telefon etc. vernetzt. Eine Parallele sind logischer Weise Rolle und Inhalt des Staatsfernsehens und daß ausländischen Medienberichterstattern Schwierigkeiten bereitet werden. Meines Erachtens aber der Schlüssel ist das Versagen einer überalterten Machtelite, die Rolle neuer Medien adäquat einzuschätzen: So wie Honecker und seine grauhaarigen Schergen das in weiten Teilen der DDR-Bevölkerung empfangbare Fernsehen aus der Bundesrepublik unterschätzt haben (man denke nicht nur an Nachrichten sondern auch an die Suggestivkraft von Werbung!) hat man in Ägypten den Internetzugang erst dann massiv eingeschränkt, als die Leute nach Monaten und Jahren von Regimekritik im Netz (und wiederholten Repressionen gegen Blogger) bereits auf die Straße gingen. In beiden Fällen hatte eine zahlenmäßig relativ kleine Gruppe Oppositioneller bereits eine Massenbewegung ausgelöst. Wer zu spät kommt, den bestraft das medienvermittelte Leben.
Machtblöcke
Vielleicht kann jemand bitte in den Kommentaren näheres erläutern, denn ich kenne mich, wie viel zu viele, nicht gut genug in der arabischen Welt aus. Ich glaube aber sagen zu können, daß Ägyptens Einbindung nicht so stark ist wie die Situation der DDR in den achtziger Jahren, wo es Glasnost und Perestroika bedurfte, um den gesellschaftlichen Aufbruch weg vom SED-Staatssozialismus möglich zu machen. Die US-Bindung Ägyptens und die Beziehungen zu Isreal sind wohl etwas grundsätzlich anderes als der ziemlich einzigartige Kalte Krieg. Eine weitere Frage die zu stellen wäre, ist die der Teilung: Kann man, und wenn ja: inwiefern, die Existenz der Bundesrepublik, also eines zweiten deutschen Staates mit deutscher Sprache und Kultur, mit der Existenz angrenzender ebenfalls arabischsprachiger Staaten mit arabischer Kultur vergleichen?
Waffen
In der DDR haben deutsche Soldaten nicht auf deutsche Bürger geschossen, sich ihnen in Leipzig knapp nicht in den Weg gestellt. Die ägyptische Armee stand tatenlos daneben, als allen Indizien nach mutmaßlich Polizisten in Zivil, Staatssicherheit und gekaufte Schläger die friedlichen Demonstranten auf dem Tahrir Square mit Steinen und Stöcken, Pferden und Kamelen, jedoch nicht mit Schußwaffen angriffen. Im Herbst 1989 trat die Volkspolizei offen, die Staatssicherheit verdeckt aber konkludent erkennbar auf. Man fürchtete eine sog. „chinesische Lösung“, die Erinnerung an das Massaker auf dem Platz des himmlischen Friedens in Peking war noch frisch. In Kairo lösten die anrollenden Panzer Begeisterung aus, obwohl sich die Armee bis zur Stunde zu keiner Seite bekannt hat.
Geschwindigkeit
Was in Ägypten passiert geschieht in atemberaubender Geschwindigkeit, selbst während ich diesen Text schreibe überschlagen sich die Ereignisse: Das Staatsfernsehen zeigt Bilder der Massendemonstration auf dem Tahrir Square und ein Telefoninterview mit einem Demonstrationsorganisator, der darin ankündigt, daß die Proteste auf dem Platz weitergehen werden. Damit sind Teile dessen, was ich unter „Medien“ schrieb, schon wieder hinfällig und ich breche an dieser Stelle mal ab, verzichte auf ein Fazit und staune stumm über die überwältigenden Bilder auf Al Jazeera. Sonst schreibe ich immernoch, wenn Mubarak zurücktritt, worüber es bereits Gerüchte zu geben scheint. Einen Weg zurück gibt es jedenfalls nicht mehr, soviel ist sicher.