Berufsprovokateure gegen Berufsdemonstranten?

Heute ist mir ein Artikel von Jörg Heuer im Hamburger Abendblatt besonders aufgefallen. Unter dem Titel „‚Wir werden von der Politik verheizt‘ – Polizisten erzählen“ (leider inzwischen „dank“ Paywall nicht mehr zugänglich, aber z.B. auch hier erwähnt) kommen drei zum Teil noch aktive Beamte zu Wort und erheben schwerste Vorwürfe gegen die Politik. Ein Beamter, der in Stuttgart dabei war (Singularität und Bedeutsamkeit des Einsatzes vom 30. September 2010 im Stuttgarter Schloßgarten zeigen sich übrigens in solchen Formulierungen, die mit „in Stuttgart“ nicht mehr länger die Stadt meinen, sondern das Ereignis dort.) etwa verdeutlicht die Verantwortung der Politik, indem er mit drastischen Worten die Spezialisten der BFEs (Beweissicherungs- und Festnahmeeinheiten) mit „scharfen Kampfhunden“ gleichsetzt, die „erbarmungslos zubeißen“ weil sie „dafür gedrillt und ausgebildet“ wurden. Wer sie einsetzen läßt, der weiß, was er tut, auch wenn er an einem Schreibtisch im Innenministerium sitzt und die Polizei als Tatwaffe einsetzt.

Es ist aber eine andere Aussage, die deutlich mehr Brisanz enthält. Sie stammt von einem jungen Polizisten, der aus naheliegenden Gründen, die es eigentlich nicht geben dürfte (die unverhohlene Inaussichtstellung des eigenen Karriereendes durch Vorgesetzte), anonym bleibt:

Ich weiß, dass wir bei brisanten Großdemos verdeckt agierende Beamte, die als taktische Provokateure, als vermummte Steinewerfer fungieren, unter die Demonstranten schleusen. Sie werfen auf Befehl Steine oder Flaschen in Richtung der Polizei, damit die dann mit der Räumung beginnen kann. […]

Man sollte sich diese Worte ein zweites Mal durchlesen und sie sich auf der Zunge zergehen lassen. Wer jetzt als Laie fragen möchte, „Ist das denn erlaubt?“ dem muß man ein entschiedenes „Natürlich nicht!“ entgegenwerfen. Schon die Anwesenheit eines solchen verdeckten Beamten in der Versammlung wäre in dieser Form rechtswidrig, da er sich nach dem Gesetz über Versammlungen und Aufzüge (VersG) gegenüber der Versammlungsleitung zu erkennen geben müsste (§§ 12, 18 VersG). Die Tathandlung durch den Beamten, immerhin der Versuch einer gefährlichen Körperverletzung, wäre zwar nicht strafbar, aber die dadurch vermeintlich gerechtfertigten anschließenden Räumungsmaßnahmen (z.B. mit sog. „unmittelbarem Zwang“ durch die oben erwähnte BFEs) werden in ein Licht offensichtlicher Rechtswidrigkeit gerückt.

Schloßgarten Stuttgart, 30.9.: So könnte der Einsatz eines "agent provocateur" aussehen.

Zulässig ist der Einsatz eines sog. „agent provocateur“ klassischer Weise in Bereichen schwerer Kriminalität, die durch ein hohes Maß an Konspiration ansonsten nur schwer oder gar nicht aufzudecken wäre, etwa wenn ein verdeckter Ermittler zum Schein ein größeres Drogengeschäft eingeht. Der Beamte wäre dann zwar nicht Anstifter, der Dealer aber sehr wohl strafbarer (Haupt)täter. Und hier liegt der Unterschied zum agent provocateur in einer Demonstration (und man lese sich nochmals obiges Zitat durch!): Die Handlung des verdeckten Beamten wird direkt zum Anlaß genommen, gegen die Demonstranten vorzugehen. Sollte der vermummte Pfeffersprayer in nebenstehendem Material vom 30.9. tatsächlich ein solcher agent provocateur gewesen sein (einige wollen Ohrhörer und Polizeipanzerung unter seiner Kleidung erkannt haben), dann war der anschließende Räumungsbefehl an die Polizei die ebenso vorsätzliche wie rechtswidrige Haupttat.

Ich möchte noch auf eine weitere Dimension obigen Zitats aufmerksam machen: „bei brisanten Großdemos“. Der anonyme Kronzeuge läßt hier durchblicken, daß das geschilderte Procedere kein Einzelfall ist, sondern zum Standardrepertoire bei Demonstrationseinsätzen gehört, wenn die Demo nur groß genug (!) oder brisant (politisch?) genug ist. Es scheint so, als wären Sätze aus Demobeobachtungsberichten, etwa vom Arbeitskreis Kritischer Juristen (akj) aus Freiburg (Disclaimer: bei dem ich auch hin und wieder aktiv bin), die von „einzelnen (!) Flaschen“ die auf die Einsatzkräfte geworfen wurden berichten, in Zukunft in ganz neuem Licht zu betrachten. Nicht ohne Grund erfolgen solche Würfe „aus der Demonstration heraus“ und nicht etwa „durch Demonstranten“ – die Unschuldsvermutung gilt für beide Seiten! Wie wichtig eine neutrale Beobachtung solcher Einsätze ist, erklärt sich sicherlich von selbst.

All dies (und alles weitere aus dem bemerkenswerten Artikel) ist übrigens nicht neu. Die „Ziel“gruppe vom 30.9. war neu: offensichtlich friedliche BürgerInnen verschiedenster Hintergründe, jung und alt, arm und reich, Schüler und Rentner, Porsche und Fahrrad, links, grün, konservativ oder gar bislang unpolitisch. Ein ordentlicher Demonstrant, so möchte man meinen, hat gefälligst gewaltbereit zu sein, jung, männlich, schwarz gekleidet. Soweit das gängige Feindbild. Natürlich (?) gibt es jene, die als Berufsdemonstranten bezeichnet werden, die tatsächlich auf Krawall aus sind. Aber, und dies sei mein abschließender Gedanke, ist es nicht vielleicht denkbar, daß so manche Gewalttätigkeit (oft mit Gegengewalt) auf vergangenen Demonstrationen hätte verhindert werden können, wären Provokationen ausgeblieben? Es muß nicht gleich der verdeckte Beamte sein, der aus der Demo heraus Steine und Flaschen wirft. Auch das Auftreten der Polizei in martialischer Kampfausrüstung und oft grotesk großer Zahl können negative Auswirkungen haben. Daß sie (nicht erst seit Stuttgart, jetzt aber erst recht!) von der Teilnahme an Demonstrationen, also der Wahrnehmung eines der wichtigsten Grundrechte, abschrecken und für die Bevölkerung den Eindruck einer besonders gefährlichen Demonstration erwecken, ist, denke ich, oft genug in akj-Berichten und andernorts gesagt worden und unbestritten.

Wer unter solchen Bedingungen heutzutage noch Polizist wird, muß bestenfalls ein echter Idealist sein. Wer dann auchnoch die geschilderten Umstände transparent macht, wie die drei Beamten im verlinkten Artikel, verdient allerhöchsten Respekt!

Update: Felix Dachsel (dessen Name mir aus Freiburg irgendwie bekannt vorkommt …) bringt in der taz den Blick auf die kommenden Gorleben-Proteste mit dem Thema agents provocateurs zusammen. In der Tat: das wird genauso spannend wie beängstigend.

2. Update (19.10., 13:48 Uhr): @_tillwe_ weist nochmal darauf hin, daß die Probleme nicht neu sind, wohl aber die Zielgruppe:

Interessant an #s21: „Szeneprobleme“ (Polizeigewalt, verdeckte Provokateure) betreffen plötzlich viel breitere Gruppe: und werden zum Thema.

RA @udovetter ist hingegen bemerkenswert skeptisch und will das alles nicht glauben: Beamtete Steinewerfer.